2024-01-15: "Ich habe mich immer wieder einlullen lassen!" - Angehörige von Menschen mit HIV

curtoicurto | istockphoto.comSchwul oder bisexuell, von Beruf Landwirt, Bäcker oder Schreiner - und HIV-positiv. Eine komplexe Thematik, doch auf den ersten Blick kein Sujet für XXelle. Dies ändert sich, wenn wir das Thema erweitern: Die Situation aus der Perspektive einer Ehefrau. - Zugehörige Ehefrauen suchen Aidshilfe zunächst als Angehörige von Menschen mit HIV auf. Sie leben im Kontext der Infektion (gelegentlich sind sie selbst infiziert) und sind oft stark betroffen von der Problematik, die dieser Rahmen mit sich bringt. Mit Geheimhaltung kennen sie sich aus: In einem konservativen Umfeld wie oftmals Landwirtschaft oder Handwerk ist es noch riskanter als anderswo, über Tabubereiche wie nicht heteronormative Sexualität und/oder eine HIV-Infektion zu kommunizieren. Darüber hinaus haben die Frauen meist drängenden eigenen Beratungsbedarf, der in der sexuellen Orientierung ihrer Partner begründet ist. Hier ist Aidshilfe als Fachstelle für Sexualität gefragt, und Mitarbeiter*innen von XXelle sind geschätzte Gesprächspartner*innen. - Es folgt der exemplarische Bericht über eine Frau, die, bereits jenseits der Silberhochzeit, zum ersten Mal offen mit der Bisexualität ihres Ehemanns konfrontiert wird.

Sina Wellbrock, staatlich geprüfte Landwirtin, leitet den eigenen Familienbetrieb im Westmünsterland. Ihren Mann Henning, ebenfalls Landwirt, hat sie in der Landjugend kennengelernt. Seit Sinas 26. Geburtstag sind die beiden ein Paar. Sie haben sechs Kinder, "zwei Generationen sozusagen", lacht die heute 52-Jährige. Von ihrer zweitältesten Tochter habe sie sich hier und da schon auf Elternsprechtagen vertreten lassen, "wenn mehrere an einem Tag stattfanden, die ich unmöglich alle besuchen konnte". - Sina liebt ihr großes Haus, die Lebendigkeit "die viele Action". Die immense Arbeit geht ihr locker von der Hand. Und sie und Henning sind ein starkes Gespann, „wir würden unser letztes Hemd füreinander weggeben!“

Doch gelegentlich ist sie irritiert. Zum ersten Mal schon kurz vor der Hochzeit. "Wenn DU immer zu mir hältst, ist alles gut", sagt Henning. Warum so pathetisch? Für sie ist das nichts, was einer Erwähnung bedarf. Das ist schließlich der Sinn von Heiraten.

Ein andermal kommt Henning tief in der Nacht von einer Feier zurück. Sina wird wach, auf dem Hof vernimmt sie laute Männerstimmen. Durchs Fenster sieht und hört sie ihren Mann in heftigem Wortgefecht mit einem anderen, den sie nicht kennt. "Warum war der denn so sauer auf dich?", will sie später wissen. Henning erzählt eine umständliche Geschichte, in der es irgendwo auch um Anmache geht. Es sei aber überhaupt nichts passiert. Wie bitte?

Manchmal versucht Sina, den Stier bei den Hörnern zu packen. "Bist du schwul?", fragt sie ihren Mann rundheraus. Was dieser heftig verneint. Einmal, nach einem gemeinsamen Einsatz auf dem Feld, springt sie vom Trecker und versperrt ihm den Weg. "Sag mir jetzt endlich, was los ist!" Doch sie beißt auf Granit. Henning lässt sie einfach stehen.

Während der Schwangerschaft mit ihrem fünften Kind wird bei Sina eine Syphilis festgestellt. Scheinbar aus heiterem Himmel. Es zeigt sich, dass auch Henning erkrankt ist. Er liefert eine groteske Erklärung. Im Urlaub auf Gran Canaria habe er in einer Sandbucht ein gebrauchtes Kondom gefunden. Und dann aufgehoben und entsorgt. "Dabei muss ich mich infiziert haben!" Sina schüttelt nachträglich den Kopf. "Aber ich habe mich immer wieder einlullen lassen!"

Im Sommer 2019 wird Henning krank. Immer wieder Fieber, eine Lungenentzündung, mit der er ins Krankenhaus muss. Ein Ausschlag mit wahnsinnigem Juckreiz, den nichts lindert. Rasanter Gewichtsverlust in kurzer Zeit, "ihm passten zum Schluss nur noch die Jeans unserer ältesten Tochter!" Schließlich die Aufnahme ins nächstgelegene Uniklinikum. Dort wird Henning erst einmal verschluckt: Es herrscht Corona, Sina darf ihren Mann nicht besuchen. Zuhause wuppt sie den Laden alleine. Das hilft ihr, sich nicht in Horrorphantasien hineinzusteigern, aber natürlich hat sie Angst, denkt an Krebs. - Endlich ein Anruf von Henning. Die Klinik werde sie einladen zu einem Gespräch mit der behandelnden Infektiologin. "Wird mir jetzt deine Todesdiagnose verkündigt?", fragt Sina. Nein, so dramatisch sei es nicht. Sie solle sich nicht sorgen. Aber es gebe einiges zu besprechen.

"Da saßen wir nun", erzählt Sina, "Henning auf der Bettkante, die Ärztin und ich auf zwei Stühlen daneben. Er sagte: 'Ich habe dich immer geliebt, und ich werde dich immer lieben. Aber ich habe Aids.'"

Der Tumult im Kopf setzt erst später ein. Hier, im Krankenzimmer, hat Sina nur einen Gedanken: Also DOCH. SCHWUL.

Henning selbst definiert sich als bisexuell. Ja, er habe Sex mit Männern. Aber auch für sie empfinde er Leidenschaft. "Und aus der wahnsinnigen Angst heraus, mich zu verlieren, hat er nichts gesagt." Am liebsten hätte ihr Mann weiterhin geschwiegen, berichtet Sina. "Doch diesmal siegte sein Verantwortungsbewusstsein. Er musste ja damit rechnen, mich infiziert zu haben." - Zu aller Erleichterung ist ihr HIV-Testergebnis negativ.

Als der Schock sie erreicht, gerät sie in einen Horrorfilm. Vor nunmehr 20 Jahren haben Henning und sie einen kleinen Sohn verloren. Er starb an plötzlichem Kindstod. "Damals dachte ich, dass mich nie mehr im Leben etwas so umhauen würde wie dieser Tod." Sie hat sich getäuscht. Wochenlang ist sie völlig aufgewühlt. Schläft kaum und ohne Tiefschlafphasen. Tagsüber wie gerädert, verdaddelt sie plötzlich Termine, fährt versehentlich schwarz oder vergisst, wo sie ihr Auto geparkt hat. Verstärkt wird ihr Gemütszustand durch das Gefühl kompletter Isolation. Sie lebt auf dem Lande, wo ihr Ehepartner auf keinen Fall geoutet werden will. Weder als Mann, der Sex mit Männern hat, noch als Mensch mit HIV.

Doch beim Kreisen des Gedankenkarussells entsteht AUCH Ordnung. Ein vollständiges Bild, wo plötzlich alles an seinen Platz fällt. Hennings merkwürdiger Satz – wenn DU nur immer zu mir hältst. Der nächtliche Streit unter ihrem Fenster. Sein verstocktes Schweigen, die Syphilis. Ein weiteres, lange verdrängtes Ereignis ergibt auf einmal Sinn: Hennings verstörender, aber gänzlich rätselhafter Suizidversuch, als die beiden vier Jahre verheiratet sind. Da haben sie schon drei kleine Kinder. Auch die jüngere Vergangenheit erscheint plötzlich in einem anderen Licht: Immer häufiger fuhr ihr Ehemann spätnachmittags noch einmal weg. Sina denkt sich zunächst nichts dabei. "Auffällig war aber die extrem schlechte Laune, mit der er jedes mal zurückkam. Irgendwer aus der Familie hat dann immer Lack gekriegt, wegen irgendwelcher Lappalien." Eine noch nicht gewaschene Hose, ein unaufgeräumtes Zimmer ... Sina schiebt Hennings Gereiztheit auf die damals prekäre wirtschaftliche Lage: Verfall der Schweinepreise, dazu Stress mit dem Vater. Doch irgendwann schießt sie zurück. Bald herrscht Dauerstreit, die Kinder leiden. Kein Wunder, dass auch der Sex des Paares versiegt.

Vor HIV hat Sina Respekt und anfänglich auch Angst, die sich aber rasch legt ("immerhin hatte ich Lindenstraßen-Wissen..."). Die Infektiologin informiert das Paar umfassend: Henning habe realistische Chancen auf komplette Zurückdrängung der Infektion und normale Lebensdauer. Und sobald seine Viruslast dauerhaft unterhalb der Nachweisgrenze sei, bestehe kein sexuelles Übertragungsrisiko mehr. - Nicht HIV also, sondern die Bisexualität ihres Ehemanns wird zu Sinas Kernproblem. Zu Beginn empfindet sie nur Abscheu. Parkplatzsex, schnelle anonyme Nummern, unvorstellbar. Und zuhause dann sie. Nein, Bisexualität ist mit ihr nicht zu machen. Körperlicher Ekel ist das eine, fehlende Exklusivität - ihren Mann „teilen müssen“ - das andere. Denn, das ist ihr bewusst, "mit Männern kann ich nicht konkurrieren!"

Aber aus einer in so vielen Jahren gewachsenen und letztlich liebevollen Beziehung aussteigen, eine Familie spalten und eine Wirtschaftsgemeinschaft sprengen – das ist leichter gedacht als getan. "Zumal er ja auch mich liebt und begehrt", ist Sina sich sicher. "Ich kann in keinster Weise darüber klagen, dass er auf meine sexuellen Wünsche und Bedürfnisse nicht eingeht!"

Sina steckt mitten im Verarbeitungsprozess. Zwar ist die Gedankenflut fürs erste gestoppt, aber ihre Gefühle sind weiterhin im Widerstreit. Das Vertrauen zu ihrem Mann ist zutiefst erschüttert. Und zweifelsohne ist sie wütend. "Hätte er rechtzeitig alles offen gelegt, hätte ich mich entscheiden können, für oder gegen eine Beziehung. Aber so, wie es gelaufen ist, hatte ich ja überhaupt keine Wahl!" - Doch ist sie eine von Grund auf empathische Persönlichkeit, und der Verlust ihres Kindes hat ihr Wahrnehmungsvermögen für Kummer und Nöte anderer noch geschärft. Sie kann sich hineindenken in Hennings Konfliktvermeidung. Hineinfühlen in Zerrissenheit und Verlustangst (die hat sie ja selbst!), Scham vor dem "Anderssein". Als solches für sie kein Problem, wäre er nicht ihr Ehemann und Geliebter.

Und wie läuft es im Moment? Gar nicht mal schlecht. "Ich merke, dass Henning ein Mühlstein vom Herzen gefallen ist", sagt Sina. "Nicht fair, denn jetzt rolle ICH den Stein vor mir her!" Aber sie lacht, als sie das sagt. Henning und sie seien in weitaus besserem Austausch als vor dem großen Knall. "Was ist los? Ihr streitet gar nicht mehr!", wundern sich die noch gänzlich ahnungslosen Kinder.

Sina lässt Henning Verabredungen treffen: Er vernetzt sich mit der Berufevereinigung "Gayfarmer" und besucht eine Selbsthilfegruppe der nächstgelegenen Aidshilfe, gleichzeitig Fachstelle für Sexualität und Gesundheit. Deren professionelle Berater*innen haben auch für Sina ein offenes Ohr. Sie gehört zwar, da macht sie sich keine Illusionen, nicht zum Kernklientel. Dennoch erweist sich der Gang zur Aidshilfe auch für sie als "erster wichtiger Schritt aus der Isolation". - So kämpft sie, im Alltag weitgehend einsam, gegen Eifersucht und Kontrollbedürfnis. Sorgt für attraktives eigenes Programm. Und fordert mutig und selbstbewusst Qualitiy Time auch von ihrem Ehemann. Nicht zuletzt erotische!

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